Vorlage:Mephisto Lyon

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Spielwiese der Tester

Mephisto Lyon: Der Veränderbare (Quelle: "Das österreichische Schachcomputer-Magazin MODUL" - Ausgabe 4/1990 von Andreas Mader)

Das Glück des Tüchtigen war den Mephisto-Leuten auch in Lyon (10. WMCCC) hold. Das neue Weltmeister-Programm ist - wie auch schon in den letzten Jahren - gerade noch vor Weihnachten erhältlich und durch einfaches Austauschen zweier EPROMs in den Portorose einzubauen. Diesmal hat sich das Team um Richard Lang besonders viel einfallen lassen, um dem fleißigen Tester die Winternächte kurzweilig zu gestalten. Deshalb soll in diesem Bericht nur von den Neuerungen des Programms die Rede sein, alle schon vom Portorose bekannten Möglichkeiten sind auch jetzt noch vorhanden!

Beim "Durchblättern" des Hauptmenüs fällt als erstes die neue Option Anzeige auf, die aber nichts anderes darstellt, als das aus "FUNK" ausgelagerte Informationsmenü, bei dem man wie gehabt zwischen normaler, rollierender oder selbst programmierbarer Anzeige wählen kann. Dafür findet man im Menü der Sonderfunktionen eine Menge Neuerungen. So ist Mephisto jetzt noch internationaler geworden, denn bei der Sprache lässt sich nicht nur Deutsch oder Englisch einstellen, auch Italienisch oder Französisch stehen jetzt zur Auswahl.

Die Eröffnungsbibliothek kann man entweder in ihrer vollen Pracht von über 100.000 Zügen oder 13.000 Varianten genießen (BIBLOTH ZUFALL), ganz ausschalten (BIBLOTH AUS), oder aber eine (angeblich) speziell auf den Spielstil von Mephisto Lyon ausgerichtete Turnierbibliothek wählen (BIBLOTH TURN). Was also bei anderen Herstellern bereits seit Jahren gang und gäbe ist, hat sich letztendlich auch beim Abonnement-Weltmeister durchgesetzt. Beispielsweise kommt das vom Portorose hin-länglich bekannte und recht exotische 1.e3 dann nicht mehr vor, auf der anderen Seite antwortet Mephisto auf 1.e4 auch nicht mehr mit 1...e5, was offenbar nach dem Willen des Eröffnungs-Gurus nicht dem Stil des Weltmeisters liegt. Sehr wohl als Antwort in Frage kommt aber auf 1.e4 zum Beispiel 1...d6 oder 1...c6 oder gar 1...e6, obwohl die französische Verteidigung zu Recht als für Computer schwierig zu spielen gilt. Damit steht die Realität übrigens im Widerspruch zu einem in der "Europa-Rochade" erschienenen PR-Artikel von (Richard Lang und) Ossi Weiner, in dem behauptet wird, Französisch werde mit Schwarz vermieden. Die harte Turnierpraxis wird zeigen, ob diese Wahl richtig war!

Auch bei der programmierbaren Bibliothek hat sich einiges geändert. Konnte man früher nur stur Züge eingeben, die bei eingeschalteter PROG.BIB auf jeden Fall gespielt wurden, so kann man jetzt tatsächlich "Löcher" in der normalen Bibliothek stopfen, ohne immer gleich durch die gesamte Hauptvariante zwangsbeglückt zu werden. Setzt man hinter die programmierten Eröffnungszüge ein "-", dann speichert der Computer dies als "passive Variante", die vom Rechner nicht zwangsläufig aktiv gespielt, aber auch nicht total unterdrückt wird. Als Beispiel: Die beinahe fatale Eröffnungsbehandlung des Lyon bei der WM gegen Echec 1.9 lässt sich Zug für Zug reproduzieren. Gibt man jetzt sämtliche Züge bis zum 11.Zug passiv ein und legt dann als 12. weißen Zug Lb5+ aktiv fest, dann gehört der fatale Bauernfraß auf b7 ein für alle Mal der Vergangenheit an. Trotzdem wird aber der erste Zug d4 (mit dem die Variante beginnt) mit gleicher Wahrscheinlichkeit wie bisher ausgewählt.

Im Unterschied zum "Löcher stopfen" der Bibliothek, bei dem man Eröffnungszüge dort hineinprogrammiert, wo bisher kein einziger Zug war, ist das "Ergänzen" (etwa in der Form: "Spiele zusätzlich zu 1.e4, d4, c4 und Sf3 noch 1.h4 mit gleicher Wahrscheinlichkeit") nicht oder nur umständlich möglich, vor allem bei Verzweigungen, die erst später auftreten. Hier tritt nämlich genau derselbe Effekt auf wie beim Portorose: Es wird bei eingeschalteter PROG.BIB nur der aktiv programmierte Zug gespielt, und sonst keiner (In unserem Beispiel würde Mephisto nur mit 1.h4 eröffnen). Mein Wunsch ans Programmierteam: Vielleicht ein "Z" wie "Zusätzlich" dort eingeben lassen, wo man mit "-" einen Zug auch passiv machen kann!

Noch eine Neuheit bei der PROG.BIB: Bei mehreren aktiv eingegebenen Zügen wird der erste mit 50% Wahrscheinlichkeit gespielt, der zweite mit 25%, der dritte mit 12.5% usw., Alternativzüge haben also jeweils die halbe Wahrscheinlichkeit des Vorgängerzuges. Da sich das nicht auf 100 Prozent ausgeht, erhält die aller letzte Alternative die Restwahrscheinlichkeit zugewiesen. Man kann auch die Reihenfolge der Züge verändern, um ihre Häufigkeit zu beeinflussen. Damit es nicht zu einfach wird, kann man die Wahrscheinlichkeit einzelner Züge auch noch um die Hälfte erhöhen, indem man diesen Zug mit "I" kennzeichnet. Bei vielen Alternativen und einigen "!" kommt man dann zu tollen Rechenexempeln, wobei ich diese Option für mehr oder weniger entbehrlich halte. Es ist nämlich nicht möglich, allen Alternativen dieselbe Wahrscheinlichkeit zuzuordnen, was ja bekanntlich hin und wieder auch ganz sinnvoll sein soll...

Genug der Bibliotheken, auch sonst hat der Lyon mit interessanten Möglichkeiten aufzuwarten. Blättern wir im FUNKT-Menü weiter, so stoßen wir nach einigen bekannten Punkten auf die Zeile mit den abschaltbaren Bauern-Strukturen. Die Bedienungsanleitung klärt uns auf: "Die Bauernstrukturen sind das Kernstück des positionellen Wissens des Lyon-Programms. Sie beinhalten Informationen, wie bei gegebenen Bauernkonstellationen in der Eröffnung und im Mittelspiel die Figuren optimal positioniert werden. Durch das Ausschalten dieser Funktionen vermindern Sie die Spielstärke, in einzelnen taktisch geprägten Stellungen kann jedoch eine unbefangenere Spielweise die Folge sein.“

Diagramm 1


Was wollen uns diese Zeilen sagen? In Diagramm 1 sehen Sie eine Stellung, die nach zwei Zügen beiderseits in einer Testpartie Mephisto Lyon gegen sich selbst mit ausgeschalteter Eröffnungsbibliothek auf Stufe TIEFE 06 erreicht wurde. (Anhand dieser Partie sollte errechnet werden, um wieviel der 68020 im Durchschnitt schneller ist als der 68000-Rechner - es ist (nur) etwa der Faktor 1.7.) Hier wartet der Lyon mit einem Zug auf, den es wohl bisher bei keinem Computer (errechnet, und nicht aus der Bibliothek!) zu sehen gab: 3.c2-c3! Meine Vermutung, dass hier wohl die Bauernstruktur-Bewertung voll zugeschlagen hat, bewahrheitete sich: Nach Ausschalten dieser Funktion ist der normale Entwicklungszug 3.Sg1-f3 angesagt. Zu Testzwecken recht nett, ist mir der Sinn des Ganzen im praktischen Spiel noch nicht völlig klar geworden, aber vielleicht hat der p.t. Leser einige gute Ideen.

Auf den ersten Blick ebenfalls recht entbehrlich scheint es, die Bewertungen für die Bauern und für die Offiziere verändern zu können. Die Bauern haben normalerweise eine Bewertung von einer Einheit, mit der sie materialmäßig in der Stellungsbewertung zu Buche schlagen. Beim Lyon ist es möglich, diesen Wert bis 0.5 zu verringern oder aber bis 1.5 zu erhöhen (von 50% bis 150% in Zehnerschritten, also 11 Möglichkeiten der Einstellung). Analoges kann man auch mit den Offizieren machen, allerdings nicht getrennt für Dame, Turm, Läufer und Springer, sondern nur gemeinsam für alle. Warum man hier auf halbem Weg stehen geblieben ist und nicht gleich alle Figuren unabhängig voneinander "verstellbar" gemacht hat, kann nur vermutet werden; vielleicht möchte man sich noch Möglichkeiten für den Nachfolger wahrscheinlich Mephisto Vancouver - offenlassen. Experimentiert man einige Zeit mit dieser Funktion, dann merkt man, dass es gar nicht so abwegig scheint, mit den Werten herumzujonglieren. Durch die verschiedenen Kombinationen erreicht man - zusätzlich zu den einstellbaren Spielstilen - noch einmal ein breites Spektrum an Möglichkeiten, das Spielverhalten des Geräts zu beeinflussen. Je tiefer man das Material bewertet, umso mehr fallen die (von der Einstellung unberührten) positionellen Elemente ins Gewicht, während der Remis-Faktor an Bedeutung verliert.

Mephisto Lyon - Echec 1.9 - 10.WMCCC 1990
Diagramm 2


Ein Beispiel in Diagramm 2: Hegener + Glaser wird diese Stellung wohl nicht so gerne sehen, denn sie stammt aus der Partie gegen Echec 1.9 bei der Mikro-WM. Mit 12.Dxb7?? machte Mephisto die Weltmeisterschaft kurzzeitig sehr spannend. Setzt man hier die Bauernbewertung auf 80%, dann lohnt sich der Bauer für den Computer nicht mehr, und er setzt mit Db5+ fort. Hat man diese Möglichkeiten einmal ausprobiert und Blut geleckt, dann wartet man bestimmt gespannt auf die nächste Version des Lang-Programms, bei der dann vielleicht noch größere Intervalle einstellbar und die Werte für die Figuren außerdem einzeln verstellbar sind. Ich würde es mir jedenfalls wünschen!

Berücksichtigt man die verschiedenen Möglichkeiten bei B.STRUKT, B.BEW, F.BEW, STIL und REM.FAKT, so kommt man auf über 5.000 verschiedene Kombinationen; nimmt man auch noch den Zufallsgenerator, die Hashtables und die Eröffnungsbibliothek dazu, hat man ungefähr 61.000 verschiedene Einstellungen, mit denen man ein Spielchen gegen das Lang-Programm wagen kann. Mit ein bisschen Geschick wird man den Lyon also in fast jeder Teststellung dazu bringen können, den gewünschten Zug in einer bestimmten Zeit zu errechnen. Anhand der eingestellten Werte kann man dann auch gut erkennen, welche Kriterien in der Normaleinstellung zu schwach oder zu stark gewichtet wurden und eine Lösung verhinderten. Dabei darf man aber nie vergessen, dass veränderte Parameter vielleicht für eine besondere Stellung ganz gut passen, im allgemeinen Spiel jedoch versagen würden. Nichtsdestotrotz wird es sicher einige Freaks geben, die etwa auf eine Bauernbewertung von 90% bei gleichzeitiger Figurenbewertung von 80% schwören werden und mit jedem auf Mord und Brand streiten, der anderer Meinung ist.

Wie stark die Einstellung von Extremwerten den Verlauf einer Partie beeinflussen und verzerren kann, zeigt folgendes Beispiel (in Klammern die jeweilige Stellungsbewertung):
Weiß: Lyon 16 Bit (BIBLOTH AUS, GEG.ZEIT AUS, B.BEW. 50%, F.BEW 150%)
Schwarz: Lyon 16 Bit (BIBLOTH AUS, GEG.ZEIT AUS, B.BEW 150%, F.BEW 50%)
Beide auf Level TURN 00 (40/120 - 20/60)

1.	d4	+0.15 Sf6	-0.09		22.	Dc4	+8.69 Td8	+0.12
2.	Lf4	+0.24 Sc6	-0.09		23.	f3	+8.66 b5	+0.18
3.	e3	+0.18 a6	-0.21		24.	Dc5	+8.87 Ld5	-0.03
4.	d5	+0.39 Sxd5	-0.09		25.	Sc1	+8.87 Lc4	-0.15
5.	Dxd5	+3.78 e6	-0.21		26.	Sd2	+9.03 Td5	-0.33
6.	Dh5	+3.81 g6	-0.03		27.	Da7	+9.36 Td6	-0.57
7.	Dg4	+3.69 Lg7	+0.18		28.	Td1	+9.33 Kg7	-1.09
8.	Lg5	+3.78 Dxg5	+0.39		29.	Se4	+9.12 Td5	-1.03
9.	Dxg5	+4.63 Lxb2	+0.27		30.	Sc5	+9.42 d2	-1.12
10.	Sf3	+4.90 Lxa1	+0.66		31.	S1b3	+9.66 Lxb3	-1.75
11.	c3	+5.09 0-0	+0.15		32.	axb3	+9.81 h6	-2.30
12.	Dh6	+4.93 f6	+0.39		33.	b4	+9.75 Td6	-2.51
13.	Sd4	+4.87 Se5	+0.57		34.	Se4	+9.78 Tc6	-2.48
14.	e4	+5.09 d5	+0.51		35.	Da8	+10.3 Tb6	-2.66
15.	Dc1	+7.75 b6	+0.39		36.	Dd5	+10.3 Te7	-2.48
16.	Sb3	+8.39 dxe4	+0.54		37.	Txd2	+10.3 Kh7	-3.12
17.	Sxa1	+8.33 Lb7	+0.45		38.	Dd8	+14.0 Tg7	-6.60
18.	Df4	+8.57 Tf7	+0.54		39.	Td7	+17.4 f5	-7.81
19.	Sb3	+8.39 Sd3+	+0.24		40.	Sc5	+17.7 Tc6	-7.00
20.	Lxd3	+8.54 exd3	+0.03		41.	Txg7+	+18.4 Kxg7+	-6.48
21.	0-0	+8.93 e5	+0.12		42.	Dd7+	+18.2 1:0	

Nach diesen chirurgischen Eingriffen ins Programm erscheinen die Änderungen in den Spielstufen nur noch minimal: Es wurde eine neue Gruppe von Levels geschaffen, die Normal-Stufen. Hier wählt man die mittlere Bedenkzeit pro Zug, die von 2 Sekunden bis 3 Minuten 45 Sekunden reicht. In der Bedienungsanleitung steht zwar nichts von einer Zeitkontrolle, die Uhr im Rechner führt diese jedoch trotzdem durch. De facto sind es also nichts anderes als verkappte Turnier-stufen. Apropos Turnierstufen: Auch hier wurde einiges geändert und den neuen Gegebenheiten angepasst. 40 Züge in 2 Stunden sind jetzt auf Turnierstufe 00 zu finden, TURN 02 sind 40 Züge in 2 Stunden und der Rest der Partie in einer Stunde. Ganz nett, war aber auch schon bisher mit der programmierbaren Stufe möglich. Als Tester finde ich es sehr lästig, dass bei jedem Wechsel der Spielstufe die Default-Werte gesetzt werden. Auf diese Art und Weise ist man gezwungen, sich bei ungewöhnlichen Werten jedes Mal neu durch das FUNKT-Menü zu hanteln und muss fürchten, auf irgendeine Einstellung vergessen zu haben. Natürlich ist es genauso falsch, alles dem Benutzer zu überlassen. Ein weiterer Punkt im Menü, etwa DEFAULT EIN/AUS, der bestimmt, ob bei Wechsel des Levels die ursprünglichen Werte gesetzt werden oder nicht, würde da Abhilfe schaffen.

Nach so vielen neuen Möglichkeiten setzt man sich gespannt ans Brett und wartet, was das Spiel Neues bringt. Zunächst einmal fällt auf, dass die Selektivität erhöht wurde. Waren beim Almeria und Portorose noch 8 Halbzüge zusätzlich angesagt, sind es beim Lyon derer 12. Trotzdem rechnet das Programm auf der Turnierstufe Brute Force etwa gleich tief wie sein Vorgänger: es selektiert nämlich weniger Züge als der Portorose, bearbeitet diese aber "gründlicher". Noch dazu wurden erstmals "Singular Extensions" eingebaut, die die selektive Rechentiefe noch weiter erhöhen, wenn es auf einen Zug nur eine "gute" Antwort gibt, d.h. alle anderen Züge eine wesentlich schlechtere Bewertung nach sich ziehen. So konnte ich z.B. bei einem forcierten Angriff in 41 Sekunden eine Ankündigung "Matt in 9" bei einer Suchtiefe von 5 Brute Force und 17 Selektiv erleben (Stellung siehe MODUL 2/89, Seite 28; 9.Zug von Weiß). Fast alle taktischen Stellungen, mit denen ich den Lyon fütterte, werden wesentlich schneller gelöst als beim Portorose. Auch einzelne schwere Fehler aus Partien des Lyon-Vorgängers können nicht mehr reproduziert werden. Dennoch kommt mir der neue Weltmeister im Mittelspiel mitunter etwas unsicher vor.

Um über die Spielstärke etwas Konkretes aussagen zu können, ist es noch zu früh. Nach den ersten Testpartien auf allen Stufen bin ich jedoch vorsichtig mit meinen Prognosen - die angekündigten 50 Punkte Steigerung gegenüber dem Portorose konnte ich noch nicht sehen, allerdings sind die Ergebnisse meiner Partien MM V gegen Lyon völlig anders als die bisher in anderen Zeitschriften veröffentlichten. Von 8:2 für Richard Lang keine Spur, bei mir steht es 5.5:4.5. Wieder einmal wird die schwedische ELO-Liste mehr Klarheit bringen. Hier noch zwei Partien des Lyon 68000 gegen den MM V: